Expertenkolumne |
17.04.2024 09:42:47
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EZB: Juni-Zinssenkung im Visier
Auch wenn die Europäische Zentralbank auf ihrer April-Sitzung noch keinen Sieg über die Inflation verkündet hat, scheint eine Zinssenkung im Juni immer wahrscheinlicher zu werden.
Bereits auf der März-Sitzung hatte der EZB-Rat damit begonnen, sich mit dem Zurückfahren des restriktiven Kurses zumindest auseinanderzusetzen. Allerdings fehlte den Ratsmitgliedern noch die nötige Zuversicht, weshalb man den Kurs der Desinflation zunächst weiterverfolgen wollte.
Wir gehen von einem vorsichtigen Vorgehen der EZB mit den üblichen Schritten um jeweils 25 Basispunkte aus, sobald sie die Zinssenkungen einleitet. Dass sich die EZB aber im Voraus auf einen bestimmten Zinspfad festlegen wird, ist unwahrscheinlich. Vielmehr werden die Entscheidungen während des Zinssenkungszyklus weiterhin datenabhängig und von Sitzung zu Sitzung getroffen. Der Markt rechnet derzeit mit einer 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit für eine Zinssenkung im Juni, mit Zinssenkungen um insgesamt etwa 75 Basispunkte in diesem Jahr und mit einem Endsatz von etwa 2,5 Prozent Ende 2025. Diese Preisgestaltung erscheint angemessen und entspricht unseren Erwartungen von drei Zinssenkungen im restlichen Jahr. Infolgedessen sind wir bei den aktuellen Bewertungen gegenüber der europäischen Duration insgesamt weitgehend neutral eingestellt. Wir gehen weiterhin davon aus, dass das hintere Ende der Zinskurven im Vergleich zu kürzeren Laufzeiten unterdurchschnittlich abschneiden wird - vor allem weil wir glauben, dass die Laufzeitprämien im Laufe der Zeit wieder zurückkommen werden.
Die Dienstleistungsinflation leistet noch Widerstand
Die zugrunde liegende Inflation lässt allgemein nach. Nahezu alle von der EZB erfassten Messgrössen sind rückläufig, die Spanne zwischen den verschiedenen Messwerten hat sich erheblich verkleinert und der inländische Preisdruck ist weiterhin hoch. Die Dienstleistungsinflation bleibt allerdings hartnäckig - sie liegt seit fünf Monaten unverändert bei vier Prozent. Und laut Präsidentin Christine Lagarde liegt ein wichtiger EZB-Indikator für die inländische Inflation, der Artikel mit geringem Importanteil misst, immer noch bei 4,5 Prozent.
Diese binnenwirtschaftlichen Druckfaktoren hängen grösstenteils mit einem robusten Lohnwachstum zusammen, denn die Löhne sind immer noch dabei, zu bereits vergangenen Inflationswerten aufzuholen. Der angespannte Arbeitsmarkt hat sich gegenüber der schwachen Konjunktur als widerstandsfähig erwiesen und die Arbeitslosenquote ist nach wie vor auf einem Rekordtief.
Die Beschäftigung stieg im Jahr 2023 um insgesamt zwei Millionen. Obwohl die Wirtschaft stagnierte, horteten die Unternehmen weiterhin Arbeitskraft. Das hat die Produktivität gesenkt und die Lohnstückkosten in die Höhe getrieben. Ob diese Druckfaktoren nun lediglich die Verzögerung bei Löhnen, Dienstleistungspreisen und die prozyklische Natur der Produktivität widerspiegeln, oder ob sie auf einen anhaltenden Inflationsdruck hindeuten, steht weiter zur Diskussion.
Worauf die EZB achtet
Die EZB möchte die Gewissheit, dass die Löhne tatsächlich in einer Weise steigen, die mit der Erreichung ihres Inflationsziels von zwei Prozent im Jahr 2025 vereinbar ist. Das Wachstum des Entgelts je Arbeitnehmer ging im vierten Quartal des vergangenen Jahres auf 4,6 Prozent zurück und lag damit leicht unter der März-Prognose der EZB. Das Wachstum der Tariflöhne (die den Löwenanteil des Wachstums des Entgelts je Arbeitnehmer ausmachen) ging im vierten Quartal ebenfalls zurück. Auch der zukunftsgerichtete Lohntracker der EZB zeigt erste Anzeichen dafür, dass der Druck nachlässt. Darüber hinaus wird die EZB auf ihrer Juni-Sitzung neue makroökonomische Projektionen vorlegen. Diese geben dann darüber Aufschluss, ob die Inflationsprognosen vom März weiterhin gültig sind. In dem Zuge wird sich auch zeigen, ob die Prognosen weiterhin eine dauerhafte Rückkehr zum Zielwert bis Mitte 2025 beinhalten. Ausserdem werden diese Prognosen zusätzliche Erkenntnisse zum Arbeitsmarkt liefern: zum Grad der Erholung und der wahrscheinlichen Richtung sowie zu den damit zusammenhängenden Folgen für Löhne, Gewinne und Produktivität.
Die Unternehmensgewinne machten im letzten Quartal 2022 mehr als 50 Prozent des BIP-Deflators (ein Mass für die allgemeine Inflation in der Binnenwirtschaft) aus. Diese Zahl fiel ein Jahr später auf nur noch 20 Prozent, doch nun könnten die Unternehmen im Zuge der wirtschaftlichen Erholung wieder an Preissetzungsmacht gewinnen. In ähnlicher Weise erwartet die EZB, dass ein Anziehen der Nachfrage zu einer steigenden Produktivität führen wird - sofern die angesammelte Arbeitskraft besser genutzt wird. Auf der anderen Seite könnten sich die derzeitigen Produktivitätsverluste der europäischen Unternehmen auch als struktureller erweisen.
Zurück zu den Prognosen
In den zwei Jahrzehnten vor der Pandemie konzentrierte sich die EZB hauptsächlich auf die von ihren Experten erstellten makroökonomischen Prognosen. Doch in den letzten Jahren hat sie ihre reaktive Funktion auf drei Kriterien aufgebaut: die Inflationsaussichten, die Dynamik der zugrunde liegenden Inflation sowie der Grad, mit welchem sich geldpolitische Massnahmen in der Realwirtschaft miederschlagen. Nun, da der Grossteil der inflationsbedingten Massnahmen hinter ihr liegt und die makroökonomischen Projektionen wieder genauer werden, scheint die EZB allmählich wieder Vertrauen in ihre eigenen Modelle zu gewinnen.
Nach Angaben der EZB verringerte sich die durchschnittliche absolute Fehlerquote der auf das jeweilige Folgequartal blickenden Stabsprojektionen im Jahr 2023 im Vergleich zu 2022 um etwa 70 Prozent. Das derzeitige geldpolitische Grundgerüst wird wohl noch einige Zeit relevant bleiben, aber die relative Gewichtung der drei oben genannten Faktoren dürfte regelmässig überprüft und angepasst werden. Während dieses Prozesses erwarten wir, dass zukunftsgerichtete Informationen in der reaktiven Aufgabenbewältigung allmählich wieder an Bedeutung gewinnen werden.
Die von Experten erstellten Prognosen vom März deuteten bereits auf eine Annäherung der Gesamt- und Kerninflation an das Zwei-Prozent-Ziel hin. Da die EZB jedoch ihren Stabsprojektionen wieder mehr Bedeutung beimisst, wird sie ihren Schwerpunkt wahrscheinlich von der Dynamik der zugrunde liegenden Inflation und der Stärke der geldpolitischen Transmission weg verlagern. Und das könnte die Hürde für die EZB senken, ihren restriktiven Kurs zurückzufahren und zu einer neutraleren Politik überzugehen.
Von Konstantin Veit, Leiter der European Rates- und Short-Term Desks, PIMCO
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