Verbraucherpreise im Blick |
06.07.2022 23:07:00
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Lage viel dramatischer? Aktuelle Inflationszahlen zeigen laut Experte nicht das ganze Ausmass der Lage
Während Anleger und Marktexperten sich uneinig sind, ob die Fed mit ihrer Geldpolitik eine Rezession riskiert oder aber die Inflation weiter antreibt, glaubt ein Marktexperte, dass die Inflationslage noch dramatischer ist als allgemeinhin angenommen.
• Experte: US-Notenbank hat zu spät gehandelt
• Inflationslage dramatischer als angenommen
John Mauldin, Finanzexperte und Analyst, beurteilt die Inflationslage durchaus kritisch. In einem Artikel bei Advisor Perspectives erklärt der Marktexperte auch, in welchem Dilemma die US-Notenbank Federal Reserve steckt.
Hat die Fed zu spät reagiert?
Hohe Inflationsraten haben die Währungshüter weltweit in Alarmbereitschaft versetzt. Die US-Notenbank Federal Reserve hat die Zinswende längst eingeleitet und zuletzt sogar einen grossen Zinssprung gewagt. Die Schweizerische Nationalbank SNB ist ebenfalls überraschend vorgeprescht und hat die Leitzinsen erhöht, eine Zinsanhebung durch die Europäische Zentralbank EZB bei der nächsten offiziellen Sitzung der Währungshüter wurde angekündigt und gilt als ausgemachte Sache.
Doch die Währungshüter wandeln auf einem schmalen Grat: Leitzinsanhebungen gelten zwar als probates Mittel zur Bekämpfung ausser Kontrolle geratener Verbraucherpreise, doch sie bergen auch das Risiko einer Rezession. Dieses Dilemma sieht auch Finanzexperte John Mauldin, wie er in einem Beitrag für Advisor Perspectives konstatiert. Rückblickend glaubt Mauldin sogar, dass die Fed die Zinswende deutlich zu spät eingeleitet hat. "Meine eigene Meinung - zugegebenermassen im Nachhinein - ist, dass die Inflation bereits ausser Kontrolle war, bevor die Debatte überhaupt begonnen hat", schreibt der Marktprofi. Seiner Ansicht nach hätten die Währungshüter "Ende 2020 oder Anfang 2021 ihre 'normale' Politik wieder aufnehmen sollen, als Impfstoffe die Auswirkungen von COVID milderten. Sie hätten 25 Punkte pro Meeting anheben und 10 Milliarden Dollar QE zurücknehmen können", so Mauldin weiter. Hätte die US-Notenbank früher reagiert, hätten sie heute mehr Optionen. Nun bleibe ihnen aber keine andere Möglichkeit, als sich in die Inflation zu stürzen.
Fed-Chef Jerome Powell geht dabei bewusst das Risiko einer Rezession ein, auch wenn er sich zuletzt überzeugt gezeigt hatte, dass die US-Wirtschaft stark genug sei, um die Leitzinserhöhungen zu überstehen. Eine Rezession sei aber dennoch ein mögliches Szenario: "Das ist sicher eine Möglichkeit. Das ist nicht unser gewünschtes Ergebnis, aber es ist sicherlich eine Möglichkeit", so der oberste Währungshüter der USA.
Situation schlimmer als in den 1970er Jahren?
Mauldin glaubt aber nicht, dass die Massnahmen der Fed die Inflation zeitnah einfangen können, dazu habe man sie zu spät ergriffen. "Ich glaube, dass die Inflation wahrscheinlich erst im nächsten Jahr von ihrem derzeitigen hohen Niveau zurückgehen wird. Sie [die Inflation, Anm. d. Red.] wird in Wellen unterschiedlicher Intensität kommen, wie es in den 1970er Jahren geschah, aber der allgemeine Trend ist festgelegt", so der Finanzexperte wenig optimistisch.
Tatsächlich sieht er sogar Anzeichen dafür, dass die Lage sich aktuell noch schlimmer darstellen könnte als dies in den 1970ern der Fall war. Zwar zeigen Charts, die den Verbraucherpreisindex abbilden, dass die Inflation aktuell noch weit unter dem Höchststand liege, die Datenlage sei heute aber eine andere. Denn betrachte man die Entwicklung der Verbraucherpreise in den vier Kategorien, über die ein typischer Haushalt kaum Kontrolle habe, nämlich Energie, Benzin, Lebensmittel und Strom, zeige sich, dass die Inflation schon "unangenehm nahe am Elend der späten 1970er Jahre liegt". Eine Verbesserung sei in absehbarer Zeit nicht in Sicht.
Andere Berechnungsgrundlage
Diese Ansicht vertritt auch der Ökonom Larry Summers, der als Mitautor in einer Studie festgestellt hat, dass die heutige Inflation bereits näher am Niveau der 1970er Jahre liege, als die meisten Leute denken würden. Es komme insbesondere darauf an, "Äpfel mit Äpfeln zu vergleichen", schreibt Mauldin diesbezüglich. Konkret gehe es um die Berechnung der Wohnkosten bei den Verbraucherpreisen. Bis 1983 habe man die Kosten für den Kauf eines Hauses mit einer Hypothek in die Rechnung einbezogen, jetzt würden die Wohnkosten berechnet, indem der Wert betrachtet wird, den ein Hausbesitzer zahlen müsse, um sein eigenes Haus zu mieten. Die Studie kommt zu dem Ergebnis: "In den 1970er und frühen 1980er Jahren liessen explodierende Zinssätze die gemeldete Inflation höher erscheinen, weil höhere Hypothekenzinsen die Kosten für den Kauf eines Hauses erhöhten."
Die Studienautoren kommen daher zu dem Schluss, dass "die aktuelle Inflation, insbesondere die Kerninflation, erheblich näher an früheren Höchstständen liegt", als die offiziellen Zahlen zeigen. "Die offizielle Kerninflation erreichte im Juni 1980 mit 13,6 Prozent ihren Höhepunkt, während wir schätzen, dass die Kerninflation im selben Monat 9,1 Prozent betrug, wenn man Art und Weise berücksichtigt, wie Wohnkosten einbezogen wurden. Unsere Schätzungen deuten auch darauf hin, dass der lokale Tiefpunkt der Kern-VPI-Inflation im Jahr 1983 erheblich höher war als ursprünglich gemeldet".
Ob die US-Währungshüter mit ihren Massnahmen die aktuelle Inflationsrate tatsächlich eindämmen können oder ob der Höhepunkt des Verbraucherpreisanstiegs erst im kommenden Jahr sichtbar sein wird, wie Mauldin konstatiert, bleibt abzuwarten. Im Mai war die Inflation in den USA überraschend auf 8,6 Prozent geklettert - offiziell auf den höchsten Wert seit 1981. Die neuen Inflationsdaten für Juni werden in wenigen Tagen erwartet.
Redaktion finanzen.ch
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