Missstände aufgedeckt |
17.10.2021 16:27:00
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Mitarbeiter kritisieren "toxisches Arbeitsumfeld" bei Jeff Bezos' Blue Origin
Nachdem Amazon-Gründer Jeff Bezos die Führungsposition des Online-Giganten im Juli an seinen Nachfolger Andy Jassy übergab, will sich der Unternehmer nun seinen anderen Projekten widmen. Auch seinem Raumfahrtunternehmen Blue Origin dürfte dadurch mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden. Gleichzeitig wächst die Kritik an den Arbeitsumständen im Konzern.
• Berichte über Sexismus und Diskriminierung
• Druck von Führungsebene soll zu Sicherheitsmängeln führen
Jeff Bezos nach Amazon-Abgang: mehr Zeit für Blue Origin
Nach 27 Jahren an der Spitze kündigte Amazon-Gründer Jeff Bezos Anfang des Jahres seinen Rücktritt als Vorstandschef an. Zwar behält der Unternehmer die Position des geschäftsführenden Vorsitzenden des Verwaltungsrats, seit dem 5. Juli hat nun aber Andy Jassy, der bereits seit 1997 im Unternehmen tätig ist und vor seiner CEO-Position die Cloudsparte Amazon Web Services (AWS) leitete, die Leitung des Versandhändlers inne. Für Bezos selbst bedeutet der Rückzug aus der Unternehmensführung aber keineswegs mehr Freizeit: Stattdessen will sich der Geschäftsmann seinen zahlreichen anderen Projekten widmen, allen voran dem Raumfahrtunternehmen Blue Origin, das er kurzerhand als den wichtigsten Job seines Lebens bezeichnete.
"Überwältigendes Gefühl des Unbehagens": Essay weist auf Missstände hin
Nun wächst allerdings die Kritik am Raketenbauer. Wie Alexandra Abrams, ehemalige Leiterin der Mitarbeiterkommunikation von Blue Origin, und 20 weitere Mitarbeiter und ehemalige Beschäftigte des Raumfahrunternehmens in einem Essay, der auf der Medienplattform "Lioness" erschien, anklagen, herrscht bei dem innovativen Konzern eine toxische und veraltete Arbeitsatmosphäre. "Viele von uns haben ihre berufliche Laufbahn damit verbracht, davon zu träumen, eine Rakete mit Besatzung in den Weltraum zu bringen und sie sicher auf der Erde landen zu sehen", ist auf der Webseite zu lesen. "Doch als Jeff Bezos im Juli dieses Jahres ins All flog, teilten wir seine Freude nicht. Stattdessen sahen viele von uns mit einem überwältigenden Gefühl des Unbehagens zu. Einige von uns konnten es gar nicht ertragen, zuzusehen." So brüste sich Blue Origin auf seiner Unternehmenswebseite damit, ein Zukunftsszenario ermöglichen zu wollen, in dem Menschen im Weltall wohnen und arbeiten. "Aber wenn die Kultur und das Arbeitsumfeld dieses Unternehmens eine Vorlage für die Zukunft sind, die Jeff Bezos sich vorstellt, dann bewegen wir uns in eine Richtung, die das Schlimmste der Welt widerspiegelt, in der wir jetzt leben, und die sich dringend ändern muss."
Unangemessenes Verhalten gegenüber Frauen an der Tagesordnung
So kritisieren Abrams & Co., dass der Grossteil der 3'600 Mitarbeiter des Unternehmens, die die Zukunft aller mitformen sollen, aus weissen Männern besteht. Der Frauenanteil an leitenden Technikern und Programmverantwortlichen entspreche ausserdem Null. "Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Belegschaft sind in der Raumfahrtindustrie üblich, aber bei Blue Origin äussern sie sich auch in einer besonderen Art von Sexismus", so die Gruppe von Mitarbeitern und Ex-Mitarbeitern weiter. Unangemessenes Verhalten gegenüber Frauen von Seiten leitender Angestellter seien keine Seltenheit und unternehmensweit bekannt. Als Beispiel wird im Essay ein leitender Angestellter aus dem inneren Kreis von CEO Bob Smith genannt, der sich der Personalabteilung zwar mehrfach wegen Vorwürfen von sexueller Belästigung stellen musste, von Smith persönlich aber zum Mitglied des Einstellungskomitees für die Besetzung einer leitenden HR-Position im Jahr 2019 ernannt worden sei. Ein weiterer ehemaliger Angestellter mit leitender Funktion habe Frauen ausserdem immer wieder herablassend behandelt und dabei Begriffe wie "kleines Mädchen", "Püppchen" oder "Schätzchen" fallen lassen. "Sein unangemessenes Verhalten war so bekannt, dass einige Frauen im Unternehmen neue weibliche Mitarbeiter warnten, sich von ihm fernzuhalten, und das, während er für die Einstellung von Mitarbeitern zuständig war." Laut den Autoren des Texts entstand oftmals der Eindruck, dass der betreffende Mitarbeiter durch seine persönliche Beziehung zu Bezos selbst geschützt war, ehe es zu einem tätlichen Angriff auf eine Mitarbeiterin kam, die schliesslich seine Entlassung zur Folge hatte. Der Bericht enthält zahlreiche weitere Beispiele für Sexismus bei Blue Origin.
Nachhaltigkeit kein Thema von Priorität
Aber nicht nur die Diskriminierung von weiblichen Angestellten bemängeln Abrams & Co. in ihrem Essay. Auch aus Sicht des Umweltschutzes gebe es bei Blue Origin noch viel Bedarf zum Nachbessern. "Das Unternehmen verkündet, dass es eine bessere Welt aufbauen wird, weil wir auf dem besten Weg sind, diese Welt zu ruinieren, aber niemand von uns hat gesehen, dass Blue Origin konkrete Pläne hat, kohlenstoffneutral zu werden oder seinen grossen ökologischen Fussabdruck deutlich zu reduzieren", lautet die Kritik der Autoren. So habe Bezos die Wichtigkeit des Themas zwar öffentlich angesprochen und auch Geldspenden an Umweltorganisationen getätigt, Nachhaltigkeit haben die Mitarbeiter im Arbeitsalltag dennoch nie als Priorität erlebt. Und auch wenn die Mitarbeiter selbst Bedenken am Umgang des Unternehmens mit der Umwelt geäussert haben, bissen sie damit meist auf Granit. "Der 2020 eröffnete Firmensitz ist kein LEED-zertifiziertes Gebäude und wurde auf Feuchtgebieten errichtet, die für den Bau trockengelegt wurden. Schliesslich mussten die umliegenden Strassen angehoben werden, um die daraus resultierenden schweren Überschwemmungen abzumildern", so das Urteil der Autoren. "Wir konnten nicht feststellen, dass Nachhaltigkeit, Klimawandel oder Klimagerechtigkeit den Entscheidungsprozess oder die Unternehmenskultur von Blue Origin beeinflussen.
Enormer psychischer Druck
Aber auch die psychischen Auswirkungen des Umgangs mit den Mitarbeitern sei nicht zu unterschätzen. So müssten viele Angestellte an ihre Belastungsgrenzen gehen. Laut den Autoren wurden in Memos der Führungsebene festgehalten, dass leitende Angestellte mehr aus ihren untergestellten Mitarbeitern herausholen sollen und diese es als "Privileg betrachten sollten, Teil der Geschichte zu sein". Im Essay wird auch über vormals engagierte Mitarbeiter berichtet, deren Leidenschaft für das Weltall durch die Arbeit bei Blue Origin so sehr eingeschränkt wurde, dass sie unter Selbstmordgedanken litten.
Sicherheitsmängel: US-Behörde will Vorwürfe prüfen
Antreibende Kraft sei auch der Wettbewerb mit SpaceX und Virgin Galactic. So werde in Besprechungen der Führungsebene immer wieder die Frage gestellt "Wann werden Elon oder Branson fliegen?", heisst es im Essay weiter. Um nicht hinter der Konkurrenz zurückzufallen, werde bei Blue Origin mit Hochdruck gearbeitet - und das nicht nur auf Kosten der Mitarbeiter, sondern auch der Sicherheit, wie Abrams und Co. erklären. Einer der Ingenieure, der auch am Bericht mitgewirkt hat, gab an, dass Blue Origin von Glück sprechen könne, dass es bisher noch nicht zu einer Sicherheitskatastrophe kam. Auf die Forderung von Seiten der Mitarbeiter, mehr Personal oder Ausgaben zu genehmigen, heisse es bei Blue Origin oft, dass man "vorsichtig mit Jeffs Geld umgehen", "nicht mehr nachfragen" und "dankbar sein" solle. Sollten Mitarbeiter dennoch versuchen, für bessere Arbeitsumstände zu kämpfen, landen sie laut den Autoren auf einer Liste von "Unruhestiftern", die an leitende Angestellte verteilt wird. Auf lange Sicht sollen diese dann aus dem Unternehmen gedrängt werden.
Wie "CNBC" berichtet, hat die US-Bundesluftfahrtbehörde Federal Aviation Administration nach der Veröffentlichung des Essays erklärt, die genannten Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen und prüfen zu wollen.
Kontrolle über Mitarbeiter mithilfe von Klauseln
Um die Kontrolle über das Unternehmen zu wahren und Kritik nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, soll Bezos selbst ausserdem 2018 eine Initiative umgesetzt haben, die darauf abzielte, dass alle Mitarbeiter ihr Recht aufgeben, arbeitsrechtliche Streitigkeiten vor Gericht zu klären oder sich über Belästigung oder diskriminierendes Verhalten zu äussern. 2019 habe die Führungsebene dann von allen Mitarbeitern verlangt, neue Verträge mit einer Nichtverleumdungsklausel zu unterzeichnen. Damit verpflichten sich nicht nur die Angestellten selbst, sondern auch deren Erben, kein schlechtes Wort über Blue Origin zu verlieren. "Die Verträge einiger ausscheidender Mitarbeiter sehen nun vor, dass sie die Anwaltskosten des Unternehmens übernehmen, falls dieses sie wegen Vertragsbruchs verklagen sollte", heisst es in dem Essay weiter. "Der innere Kreis der Führungskräfte verfolgte, wer unterschrieb, und besprach Notfallpläne für diejenigen, die nicht unterschrieben."
"Egozentrische Individuen mit endlosen Geldspeichern"
Zwar geben die Autoren des Texts zu, dass kein Unternehmen perfekt sei, dies sei jedoch keine Entschuldigung für das Verhalten der Führungsriege von Blue Origin. "Wir haben auf dem Planeten Erde viele Fehler gemacht. Sollten die Leiter eines Unternehmens, das sich selbst als die Lösung für die Zukunft der Menschheit anpreist, nicht auch sicherstellen, dass ihr Unternehmen ethisch und verantwortungsbewusst arbeitet und einer Aufsicht unterliegt, die Verantwortlichkeit schafft und Sicherheit gewährleistet? Nicht so bei Blue Origin", resümieren Abrams & Co. "Sollten wir als Gesellschaft zulassen, dass egozentrische Individuen mit endlosen Geldspeichern und sehr wenig Rechenschaftspflicht diese Zukunft gestalten?"
Blue Origin weist Vorwürfe zurück
Nachdem der Essay auf der Online-Plattform veröffentlicht wurde, meldete sich Linda Mills, Vizepräsidentin für Kommunikation bei Blue Origin, zu Wort. "Blue Origin toleriert keine Diskriminierung oder Belästigung jeglicher Art", wies Mills die Vorwürfe aus dem Essay zurück. "Wir bieten zahlreiche Möglichkeiten für unsere Mitarbeiter, einschliesslich einer anonymen 24/7-Hotline, und werden jeden neuen Vorwurf von Fehlverhalten umgehend untersuchen. Wir stehen zu unserer Sicherheitsbilanz und sind davon überzeugt, dass New Shepard das sicherste Raumfahrzeug ist, das jemals entwickelt oder gebaut wurde." Auf die übrigen Vorwürfe aus dem Essay ging die Kommunikationsleiterin nicht ein.
"Keine Angst mehr habe, mich zum Schweigen bringen zu lassen"
Abrams sei Mills zufolge vor zwei Jahren entlassen worden, nachdem sie mehrere Verwarnungen aufgrund des Verstosses gegen Bundes-Exportkontrollvorschriften erhielt. Gegenüber CNBC gab Abrams anschliessend an, niemals eine Verwarnung in irgendeiner Form zu Problemen mit bundesstaatlichen Exportkontrollvorschriften erhalten zu haben. Im Gespräch mit "CBS Mornings" erklärte sie, dass sie die Kündigung erhielt, nachdem sie Kritik an der Einführung strengerer Vereinbarungen äusserte, die den Mitarbeitern ihrer Meinung nach das Recht nähmen, Streitigkeiten vor Gericht auszutragen oder über Diskriminierung zu sprechen. Auch habe sie selbst eine entsprechende Erklärung unterschrieben. Dennoch habe sie sich entschieden, mit den Missständen bei Blue Origin an die Öffentlichkeit zu gehen. "Ich habe mich so weit davon entfernt, dass ich keine Angst mehr habe, mich zum Schweigen bringen zu lassen", so Abrams im Interview mit dem Sender.
Redaktion finanzen.ch
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